Das 16. Adventskalendertürchen

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optimistin
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Das 16. Adventskalendertürchen

Beitrag von optimistin »

Hallo Ihr Lieben,
ich möchte das heutige Türchen für Euch mit einer Geschichte füllen.
Vielleicht hat ja noch jemand etwas in seinem Schatzkästlein.Bild

Pelle zieht aus von Astrid Lindgren

Pelle ist böse. Er ist in einem solchen Grade böse, dass er beschlossen hat, von zu Hause wegzuziehen. Man kann einfach nicht weiter bei einer Familie wohnen, wo man in dieser Weise behandelt wird.
Das war morgens, als Papa ins Büro gehen wollte und seinen Füllfederhalter nicht finden konnte. "Pelle, hast du schon wieder meinen Füllfederhalter genommen?", fragte Papa und packte Pelle hart am Arm.
Pelle hatte schon manchmal Papas Füller ausgeliehen. Aber nicht heute. Heute steckte der Füller in Papas brauner Jacke, die im Schrank hing. Pelle war vollkommen unschuldig. Und Papa, der ihn so hart am Arm gepackt hatte? Und Mama? Sie hielt selbstverständlich zu Papa. Das hört jetzt aber auf! Pelle hatte die Absicht umzuziehen.
Aber wohin? Er kann zur See gehen. Das kann er. Auf das Meer, wo die großen Schiffe und die großen Wellen sind. Dort kann man sterben. Dann können die zu Hause aber jammern. Er kann auch nach Afrika fahren, wo wilde Löwen umherlaufen. Wenn Papa dann aus dem Büro nach Hause kommt und wie immer fragt: "Wo ist mein kleiner Pelle?", dann weint Mama und sagt: "Pelle ist von einem Löwen aufgefressen worden." Ja, ja, so geht es, wenn man ungerecht ist!
Aber Afrika ist so weit fort. Pelle würde gern etwas mehr in der Nähe bleiben, damit er sehen könnte, wie Papa und Mama nach ihm weinen. Pelle beschließt deshalb, nach "Herzhausen" zu ziehen- so nennen sie das kleine rote Häuschen unten im Hof mit dem Herz in der Tür. Dort wird er hinziehen. Er fängt sofort an zu packen, seinen Ball, seine Mundharmonika und "Max und Moritz". und dann ein Licht. Ja, in zwei Tagen ist doch Weihnachten. Pelle will in Herzhausen Weihnachten feiern. Da will er dann sein kleines Licht anzünden und "O du fröhliche, o du selige" auf der Mundharmonika spielen. Das wird sehr traurig klingen, und man wird es bis hinauf zu Mama und Papa hören können.
Pelle zieht sich seinen feinen, hellblauen Mantel und die Handschuhe an und setzt die Ledermütze auf. Er nimmt die große Papiertüte mit dem Ball und der Mundharmonika und dem Licht in die eine Hand und "Max und Moritz" in die andere. Und dann geht er direkt durch die Küche, damit Mama sehen kann, dass er jetzt umzieht. "Aber Pelle, willst du schon ausgehen?", fragt Mama.
Pelle antwortet nicht. Ausgehen, ha! Sie sollte nur wissen. Mama sieht, dass Pelle eine tiefe Falte auf der Stirn hat, und dass seine Augen so dunkel sind.
"Pelle, Liebling, was hast du, wo willst du hin?"
"Ich ziehe um!"
"Wohin denn?", fragt Mama.
"Nach Herzhausen", sagt Pelle.
"Pelle, das kann doch nicht dein Ernst sein! Wie lange willst du dort wohnen?"
"Immer", sagt Pelle und legt die Hand auf den Türgriff. "Dann kann Papa ja jemand anders beschuldigen, wenn sein alter Füllhalter wegkommt."
"Lieber guter Pelle", sagt Mama und schlingt die Arme um ihn. "Willst du nicht doch bei uns bleiben? Wir tun dir vielleicht manchmal unrecht, aber wir lieben dich doch so sehr - so sehr."
Pelle zögert. Aber nur einen Augenblick. Er schiebt Mamas Arm beiseite, wirft ihr einen letzten vorwurfsvollen Blick zu und wandert davon. Mama steht am Esszimmerfenster und sieht, wie eine kleine, hellblaue Gestalt hinter der Tür mit dem Herz verschwindet. Eine halbe Stunde vergeht. Dann hört Mama einige schwache Mundharmonikaklänge, die von Herzhausen herüberkIingen. Es ist Pelle, er spielt "Nun ade, du mein lieb Heimatland".
Herzhausen ist ein richtig gemütlicher Ort, findet Pelle. Für den Anfang jedenfalls. "Max und Moritz" und den Ball und die Mundharmonika hat er so heimelig wie möglich aufgestellt. Und in das Fenster hat er das kleine Licht gesetzt. Wie traurig wird es dort stehen und am Weihnachtsabend leuchten, falls Papa und Mama zu ihm hinuntersehen. Aus dem Esszimmerfenster.
Am Esszimmerfenster steht immer der Weihnachtsbaum. Der Weihnachtsbaum, ach ja. Und - und - die Weihnachtsgeschenke. Pelle schluckt. Nein, er hat nicht die Absicht, irgendwelche Weihnachtsgeschenke von Leuten anzunehmen, die behaupten, dass er Füllfederhalter stiehlt. Noch einmal spielt er "Nun ade, du mein lieb Heimatland". Lang, sehr lang wird die Zeit in Herzhausen. Was mag Mama jetzt machen? Papa muss inzwischen auch schon nach Hause gekommen sein. Pelle würde so gern in die Wohnung hinaufgehen und sehen, ob sie sehr weinen. Aber es ist schwer, einen Grund dafür zu finden. Dann hat er einen Einfall. Er öffnet rasch den Riegel an der Tür und geht, nein, springt beinah über den Hof und die Treppen hinauf. Mama ist in der Küche.
"Mama", sagt Pelle, "wenn für mich vielleicht Weihnachtspostkarten ankommen sollten, willst du dann dem Briefträger sagen, dass ich umgezogen bin?". Mama verspricht, es zu tun. Pelle geht zögernd wieder zur Tür. Die Füße sind ihm wie Blei.
"Pelle", sagt Mama mit ihrer weichen Stimme. "Pelle - aber was tun wir mit deinen Weihnachtsgeschenken? Sollen wir die nach Herzhausen hinunterschicken, oder kommst du herauf und holst sie?"
"Ich will keine Weihnachtsgeschenke haben", sagt Pelle mit harter Stimme.
"Aber Pelle", sagt Mama. "Das wird ja ein schrecklicher Weihnachtsabend. Kein Pelle, der die Kerzen am Weihnachtsbaum anzündet, kein Pelle, der dem Weihnachtsmann die Tür aufmacht . . . Alles, alles ohne Pelle . . ."
"Ihr könnt euch ja einen anderen Jungen anschaffen", sagt Pelle mit zitternder Stimme.
"Nie im Leben!", ruft Mama. "Pelle oder keinen! Es ist immer nur unser Pelle, den wir so lieb haben."
"Ach so", sagt Pelle mit noch mehr Zittern in der Stimme.
"Papa und ich, wir werden hier herumsitzen und den ganzen Weihnachtsabend weinen. Wir werden nicht einmal die Lichter anzünden. Wir werden nur weinen."
Da lehnt Pelle den Kopf an die Küchentür und fängt an zu weinen, weint so herzzerreißend, so laut, so durchdringend - so fürchterlich! Er hat so großes Mitleid mit Papa und Mama. Und als Mama ihre Arme um ihn legt, drückt er sein Gesicht an ihren Hals und weint noch mehr, so sehr, dass Mama ganz nass davon wird.
"Ich verzeihe euch", sagt Pelle zwischen den Tränen.
"Danke, lieber Pelle", sagt Mama.
Viele, viele Stunden später kommt Papa aus dem Büro nach Hause und ruft wie immer bereits in der Diele:
"Wo ist mein kleiner Pelle?"
"Hier!", schreit Pelle und wirft sich ihm in die Arme.
Tränen sind kein Zeichen von Schwäche. Sie sind Zeichen dafür, dass man zu lange versucht hat, stark zu sein.
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