Die Geschichte vom Weihnachtsbraten
von Margret Rettich
Einmal fand ein Mann am Strand eine Gans – eine richtige weiße Hausgans.
Der Mann steckte sie unter seine Jacke und brachte sie seiner Frau: »Hier ist unser Weihnachtsbraten.«
Beide hatten noch niemals ein Tier gehabt.
»Weißt du, was Gänse fressen?« fragte sie.
»Keine Ahnung«, sagte der Mann.
Sie probierten es mit Kartoffeln und mit Brot, aber die Gans rührte nichts an. Sie
mochte auch nicht den Rest vom Sonntagsnapfkuchen. »Sie hat Heimweh nach
anderen Gänsen«, sagte die Frau.
Die Gans wehrte sich nicht, als sie in die Küche getragen wurde. Sie saß still unter dem Tisch. Der Mann und die Frau hockten vor ihr, um sie aufzumuntern.
»Wir sind eben keine Gänse«, sagte der Mann.
Er setzte sich an den Tisch und suchte im Radio nach Blasmusik. Die Frau setzte
sich daneben und klapperte mit den Stricknadeln. Es war sehr gemütlich. Plötzlich fraß die Gans Haferflocken und ein wenig vom Napfkuchen.
»Er lebt sich ein, der liebe Weihnachtsbraten«, sagte der Mann. Bereits am
anderen Morgen watschelte die Gans überall herum. Sie streckte den Hals durch
offene Türen, knabberte an der Gardine und machte einen Klecks auf den
Fußabstreifer.
Es war ein einfaches Haus, in dem der Mann und die Frau wohnten. Es gab keine
Wasserleitung, sondern nur eine Pumpe. Als der Mann einen Eimer voll Wasser
pumpte, wie er es jeden Morgen tat, ehe er zur Arbeit ging, kam die Gans,
kletterte in den Eimer und badete. Später ging sie mit der Frau zusammen zum
Bäcker und in den Milchladen. Als der Mann am Nachmittag auf seinem Rad von
der Arbeit kam, standen die Frau und die Gans an der Gartenpforte. »Jetzt mag sie auch Kartoffeln«, erzählte die Frau.
»Brav«, sagte der Mann und streichelte der Gans über den Kopf, »dann wird sie
bis Weihnachten rund und fett.«
Wenn der Mann und die Frau am Abend mit der Gans zusammensaßen, malten
sich beide die herrlichsten Weihnachtsessen aus. »Gänsebraten und Rotkohl, das passt gut«, meinte die Frau und kraulte die Gans auf ihrem Schoss.
Wenn sie ins Bett gingen, lag die Gans am Fußende und wärmte sie.
Mit einem Mal war Weihnachten da. Die Frau schmückte einen kleinen Baum. Der
Mann radelte zum Kaufmann und holte alles, was sie für den großen Festschmaus brauchten. Außerdem brachte er ein Kilo extrafeine Haferflocken.
»Wenn es auch ihre letzten sind«, seufzte er, »soll sie doch wissen, dass
Weihnachten ist.«
»Was ich sagen wollte«, meinte die Frau, »wie, denkst du, sollten wir…“
Der Mann sagte eine Weile nichts. Und dann:
»Ich kann es nicht.«
»Ich auch nicht«, sagte die Frau. »Ja, wenn es eine x-beliebige wäre. Aber nicht
diese hier. Nein, ich kann es auf gar keinen Fall.«
Der Mann packte die Gans und klemmte sie in den Gepäckträger. Dann fuhr er auf dem Rad zum Nachbarn. Erst am Abend kam er wieder. Die Gans saß friedlich hinter ihm.
»Ich habe den Nachbarn nicht angetroffen, da sind wir etwas herum geradelt«,
sagte er verlegen.
»Macht gar nichts«, rief die Frau munter, »als du fort warst, habe ich mir überlegt, dass es den feinen Geschmack des Rotkohls und der Klöße nur stört, wenn man noch etwas anderes dazu auftischt.«
Die Frau hatte recht, und sie hatten ein gutes Essen. Die Gans verspeiste zu ihren Füßen die extrafeinen Haferflocken. Später saßen sie alle drei nebeneinander auf dem Sofa in der guten Stube und sahen in das Kerzenlicht.
Im nächsten Jahr kochte die Frau zu den Klößen Sauerkraut, im Jahr darauf zum
Sauerkraut Bandnudeln. Das sind so gute Sachen, dass man nichts anderes dazu
essen sollte.
Inzwischen ist viel Zeit vergangen. Gänse werden sehr alt